Detlev, der Weinflüsterer sieht in die Zukunft! Dem deutschen Wein steht eine Geschmacksrevolution bevor


Dem deutschen Wein steht eine Geschmacksrevolution bevor: 

Die Zukunft im Glas

Prolog zur Revolution

Herzlich willkommen, meine lieben Weinfreunde! Habt ihr auch dieses Kribbeln in der Nase, wenn ihr an die Zukunft denkt? Und nein, ich meine nicht die Kohlensäure in einem guten Crémant. Es geht um eine historische Zeitenwende, eine Revolution, von der in den Medien schon getuschelt wird. Wer von euch hat den Artikel in der Welt vom 29. August 2025 gelesen? Er hat mich nicht mehr losgelassen, denn er spricht das aus, was wir alle irgendwie spüren: Deutscher Wein schmeckt anders als früher. Die Frage ist: Ist das eine Katastrophe oder die aufregendste Entwicklung seit der Römerzeit?

Ich möchte euch mitnehmen auf eine Reise von den Schneelesen meines Vaters in den 60ern bis zu den sonnenverwöhnten Jahrgängen von heute. Winzer Klaus Peter Keller berichtet, wie in den 60er-Jahren der Riesling manchmal noch unter Schnee geerntet wurde und Reife das Hauptproblem war. Damals war es die große Herausforderung für Winzer, überhaupt reife Trauben zu bekommen. Heute sind wir am anderen Ende des Spektrums, und die Frage hat sich umgekehrt: Wie bewahrt man die Frische, wenn die Sonne unerbittlich brennt? Hier beginnt unsere Revolution.  

Wir stehen an einem Scheideweg. Die Weinkarte wird neu geschrieben, nicht von Hand, sondern von der Natur selbst. Was früher im Süden Frankreichs wuchs, findet heute hier seinen neuen Platz. Ist Franken das neue Bordeaux? Vielleicht. Und der Mosel-Riesling wird sich in ein paar Jahrzehnten so verändern, dass wir ihn kaum wiedererkennen. Dies ist nicht nur ein Wandel, sondern eine Revolution im Glas.  

Das Thermometer im Weinberg – Warum unser Wein anders schmeckt

Die süße Last der Sonne: Wenn aus Reife Schwere wird

Die Wissenschaft hinter dem Wandel ist klar und unmissverständlich. Steigende Temperaturen beschleunigen die Traubenreife. Während in den 60er- und 70er-Jahren viele Trauben noch Mitte bis Ende Oktober reif wurden, ist die Lese heute vielfach schon Mitte bis Ende September fällig. Doch diese Beschleunigung hat ihren Preis: Höhere Temperaturen führen zu einem schnelleren Zuckeraufbau, und mehr Zucker in der Traube bedeutet bei der Gärung nur eines: mehr Alkohol im fertigen Wein. Weine mit 13, 14 oder gar 15 Prozent Alkoholgehalt sind keine Seltenheit mehr und werden von Kritikern als „kopfig“ oder „heiß“ bezeichnet. Das Gleichgewicht, das einen guten Wein ausmacht, verschiebt sich drastisch.  

Der Verlust der Unschuld: Die Sache mit der Säure

Die Kehrseite des Zuckerbooms ist der Säureverlust. Die Apfelsäure, die für die knackige Frische deutscher Weißweine so entscheidend ist, baut sich bei hohen Temperaturen schneller ab. Ein niedriger Säuregehalt geht mit einem höheren pH-Wert einher , was nicht nur den Geschmack beeinträchtigt, sondern auch die Lagerfähigkeit reduziert. Klassische Rebsorten wie der Riesling, die ihre Eleganz gerade aus der Balance von Süße und Säure ziehen, verlieren ihre typische Spritzigkeit und Frische. Manche Weine aus diesen Sorten entwickeln sogar untypische Alterungsnoten und riechen dumpf nach nassem Pappkarton oder Mottenpulver. 

Der Geschmack des Wandels – Eine Frage des Terroirs

Die neuen Weine schmecken nach überreifen Früchten statt nach knackigem Apfel oder spritziger Zitrone. Der berühmte Begriff des „Terroirs“ – die einzigartige Kombination aus Boden, Klima und Topografie – gerät unter Druck. Klimaforscher prognostizieren, dass unsere Weinbaugebiete bald das Klima des heutigen Südfrankreichs haben werden , was die traditionellen Geschmacksprofile unmöglich macht. Die einzige Konstante ist der Wandel, wie es auch in der Weinwelt heißt. Es ist ein paradoxes Phänomen, dass der Klimawandel dem deutschen Weinbau zunächst zugutekam. In den 90er-Jahren sah man ihn als Segen, der endlich für verlässlich reife Trauben sorgte. Dies ermöglichte den Aufstieg der trockenen Rieslinge und verhalf dem deutschen Wein zu internationalem Renommee. Doch dieser anfängliche Vorteil hat sich zu einer existenziellen Herausforderung entwickelt. Die Winzer, die einst von der neuen Wärme profitierten, sehen sich nun mit Extremereignissen wie Hagel, Dürren und Spätfrösten konfrontiert. Der Wandel ist nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess, der eine permanente Anpassung von der Branche verlangt, und die sichtbare Geschmacksrevolution ist das Ergebnis dieser unaufhörlichen Dynamik. 

EigenschaftKlassischer Riesling (ca. 1970er)Moderner Riesling (ca. 2020er)
Lesezeitpunkt

Mitte/Ende Oktober  

Mitte/Ende September    

Alkoholgehalt

< 12 Vol-%  

12–14 Vol-% 

Säure

Hoch, lebendig    

Geringer, weicher  

Typische Aromen

Zitrus, grüner Apfel    

Überreifes Obst, Melone, tropische Früchte  

Helden des Untergrunds – Die neuen Rebsorten und ihre Mission

Ein Abschied auf Zeit: Klassiker auf dem Weg nach Norden

Angesichts der extremen Bedingungen ziehen sich traditionelle Rebsorten langsam aus ihren angestammten, wärmeren Lagen zurück. Warme Flusslagen im Rheingau liegen brach, während kühlere Waldlagen begehrter werden. Der Rieslinganbau verlagert sich in nördlichere Regionen , doch dies ist keine langfristige Lösung, da auch diese Gebiete vom Klimawandel erfasst werden. Der Weinbau passt sich an, doch braucht es mehr als nur eine geografische Verlagerung, um die Zukunft zu sichern.

PiWi-Revolution: Das neue Normal?

Hier betritt die Speerspitze der Revolution die Bühne: die pilzwiderstandsfähigen Rebsorten, kurz PiWis. Sie sind das Ergebnis jahrzehntelanger Züchtungsarbeit, bei der amerikanische Wildreben mit europäischen Rebsorten gekreuzt wurden, um ihre natürlichen Resistenzen zu nutzen. Sie bringen eine erstaunliche Widerstandskraft gegen Mehltau und andere Pilzkrankheiten mit sich. Das Resultat ist, dass bis zu 80 % weniger Pflanzenschutzmittel benötigt werden. 

Die PiWis werden als die Zukunft bezeichnet und sollen zu einem „neuen Normal“ werden. Dieser Gedanke markiert einen tiefgreifenden Wandel in der Denkweise der Winzer, die diese neuen Sorten früher oft als qualitativ minderwertig abtaten und ihnen die „Weinkompetenz“ absprachen. Es geht nicht mehr nur um die Bewahrung der Tradition, sondern um die pragmatische Sicherung der Existenz durch Anpassung. Die geringe Anbaufläche von nur 3 % in Deutschland im Vergleich zu den 10 % ökologischer Anbaufläche zeigt jedoch, dass es hier noch eine Diskrepanz zwischen ökologischem Bewusstsein und der praktischen Umsetzung der Sortenwahl gibt. Initiativen wie der "Internationale PIWI Weinpreis" sind daher notwendig, um die neuen Weine ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und das Vertrauen der Konsumenten zu gewinnen.  

Die Geschmacksvielfalt der Zukunft:

PiWis bieten nicht nur ökologische Vorteile, sondern auch eine neue, aufregende Geschmackspalette:

  • Cabernet Blanc: Dieser erfolgreiche, widerstandsfähige Weißwein ist ein Verwandter des Sauvignon Blanc. Seine Weine sind komplex und würzig, mit exotischen Noten von Maracuja, Litschi und rotem Paprika.  

  • Johanniter: Eine harmonische Kreuzung aus Riesling, Seyve Villard, Ruländer und Gutedel. Er erinnert an einen Riesling mit Aromen von Melone, Limonen und Quitte. Seine Säure ist sanft und burgunderähnlich.  

  • Muscaris: Ein aromatisches Kraftpaket, das aus Muskateller und Solaris gekreuzt wurde. Er bietet intensive Muskatnoten und tropische Früchte mit einer dezenten Rauchnote. Er eignet sich hervorragend für Süßweine und als Begleiter zu asiatischer Küche. 

  • Regent: Der Rotwein-Pionier unter den PiWis. Er ergibt farbkräftige Weine mit Aromen von Kirschen, Zwetschgen und roten Beeren. Er kann auch als Rosé ausgebaut werden und profitiert von einer mehrjährigen Flaschenreife.  

RebsorteAnbaufläche in ha (Stand 2022)KreuzungGeschmacksprofil
Regent

1.618   

Silvaner x Müller-Thurgau x Chambourcin

Kirschen, Pflaumen, rote Beeren    

Cabernet Blanc

260   

Cabernet Sauvignon x Resistenzpartner

Maracuja, Litschi, roter Paprika, würzige Kräuter  

Solaris

207  

Merzling x Gm7493

Quitte, Mirabelle, Mandel, Karamell  

Souvignier Gris

205  

Seyval blanc x Zähringer

Honigmelone, Aprikose, Quittensaft  

Muscaris

117   

Solaris x Gelber Muskateller

Muskat, tropische Früchte, leicht rauchig   

Vom Traktor zum Hightech-Spielplatz – Innovationen im Weinberg

Wurzeln im Boden, Sensoren in der Luft: Der kluge Winzer von heute

Winzer müssen heute nicht nur ihre Trauben, sondern auch die Technik beherrschen. Um den gestiegenen Herausforderungen zu begegnen, setzen sie auf eine Mischung aus bewährten und futuristischen Methoden. Der Humusaufbau und die Begrünung zwischen den Rebenreihen werden zur wichtigsten Waffe gegen Trockenheit, da Humus Wasser wie ein Schwamm speichert und somit die Wasser- und Nährstoffreserven im Boden verbessert. Die traditionelle Rebe ist eigentlich ein „Pfahlwurzler“, der sich tief aus dem Boden mit Wasser versorgt. Bei anhaltender Dürre stößt jedoch selbst das an seine Grenzen.  

An dieser Stelle kommen moderne, technologische Lösungen ins Spiel. Mit sensorgestützter, KI-gesteuerter Tröpfchenbewässerung kann der Wasserverbrauch optimiert werden, wobei Projekte wie das der Firma Fluid Systems & Automation (FSA) eine Wassereinsparung von mindestens 30 % versprechen. Die Technologisierung des Weinbaus transformiert den traditionsreichen Handwerksberuf in einen hochspezialisierten, datengesteuerten Landwirtschaftszweig. Dies erfordert von Weinbauingenieuren und Winzern weitreichende IT-Kenntnisse. 

Vitivoltaik: Wenn Wein und Strom gemeinsame Sache machen

Eine der innovativsten Anpassungsstrategien ist die Agri-Photovoltaik, liebevoll „Vitivoltaik“ genannt. Solarmodule über den Reben klingen vielleicht nach Science-Fiction, bieten aber gleich zwei entscheidende Vorteile: Sie produzieren nicht nur sauberen Strom, sondern schützen die Reben auch vor den Extremen des Klimawandels. Die moderate Beschattung reduziert den Hitzestress und verhindert Sonnenbrand an den Trauben. Gleichzeitig mindern die Module die Gefahr von Hagelschäden und erodierenden Starkregenereignissen. Die hohen Investitionskosten für solche Bewässerungs- und Vitivoltaiksysteme zeigen jedoch, dass die Anpassung für kleine Familienbetriebe eine enorme finanzielle Last darstellt. Dies führt zwangsläufig zu einer Schere zwischen innovationsfreudigen, finanzkräftigen Betrieben und jenen, die sich die Modernisierung nicht leisten können. Die Zukunft des Weinbaus wird somit auch eine Frage der ökonomischen Spaltung sein.  

Das Genom der Zukunft: KI im Dienste des Weins

Was früher eine Generationenaufgabe war, könnte die Künstliche Intelligenz auf weniger als ein Jahrzehnt verkürzen. Das wegweisende Projekt „SelWineQ“ nutzt KI, um das genetische Potenzial von Tausenden von Rebsorten zu analysieren und „schlechte“ Keimlinge frühzeitig auszusortieren. Gleichzeitig arbeiten Projekte wie „PINOT“ mit „künstlichen Nasen“ zur Qualitätsanalyse, um Winzer bei der Datenanalyse ihrer Weine zu unterstützen. Diese technologische Entwicklung zeigt, dass die Revolution nicht nur im Wein selbst, sondern auch in den Köpfen und im Betriebsmanagement der Winzer verankert ist.  

Die menschliche Seite der Revolution – Geschichten von Mut und Melone

Helden des Wiederaufbaus: Das Ahrtal als Symbol

Die Geschichten hinter den Weinen sind es, die sie erst wirklich lebendig machen. Die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 ist ein trauriger, aber auch inspirierender Teil der Revolution. Die Geschichte der Schwestern Meike und Dörte Näkel, die ihr Weingut Meyer-Näkel verloren, aber in einer lebensbedrohlichen Nacht überlebten, ist ein Zeugnis von unerschütterlichem Mut. Ihre Geschichte geht über eine einfache Katastrophengeschichte hinaus; sie symbolisiert, dass die Widerstandsfähigkeit der Rebe im Kampf gegen die Natur der Widerstandsfähigkeit der Menschen in den Weinbaugebieten entspricht. Die Tatsache, dass sie nur ihr Weingut, nicht aber ihr Leben verloren haben, ist eine traurige, aber wichtige Erkenntnis, die ihre Motivation für den Wiederaufbau untermauert. Die Auszeichnung ihres Weinguts zum "Weingut des Jahres 2024" ist ein starkes Zeichen dafür, dass aus der Asche neue Stärke erwachsen kann.  

Vom Weinkellner zum Weinexperten: Der Wandel des Sommeliers

Die Revolution macht auch vor dem Restaurant nicht halt. Sommeliers sind heute mehr als nur livrierte Weinkellner. Sie müssen sich mit neuen Sorten, neuen Aromen und vor allem neuen Kundenwünschen auseinandersetzen. Dazu gehört auch das wachsende Interesse an alkoholfreien Alternativen. Der Beruf hat sich vom Weinkellner zum Weinexperten gewandelt, der die komplexen Zusammenhänge von Klimawandel, neuen Sorten und Konsumtrends vermittelt.  

Anekdoten und Kuriositäten: Humor, der im Gedächtnis bleibt

Trotz aller ernsten Herausforderungen bleibt die Kultur des Weins von Humor und Menschlichkeit geprägt. Es sind Geschichten, die das ernsthafte Thema auflockern und eine emotionale Bindung schaffen. Wie der Wunsch nach einem Hals wie eine Giraffe mit Wendeltreppe, um einen besonders guten Tropfen langsam genießen zu können. Oder die skurrile Geschichte vom größten  

Weinfass der Welt in Bad Dürkheim, in dessen Inneren sich ein Restaurant befindet und das nie mit Wein gefüllt war. Dann gibt es den uralten "Würzburger Stein" aus dem Hitzesommer 1540, der als ältester trinkbarer Wein der Welt gilt. Und schließlich gibt es noch einen Fakt, der die Party rettet: Jährlich sterben mehr Menschen durch mit bis zu 40 km/h herausfliegende Sektkorken als durch giftige Spinnenbisse. Diese Geschichten erinnern uns daran, dass trotz aller Herausforderungen die Freude und die Kultur des Weins im Mittelpunkt stehen.  

Fazit: Eine Revolution mit weichen Tanninen

Was wir heute sehen, ist nicht das Ende, sondern die Neuerfindung des deutschen Weins. Ja, der Riesling muss kämpfen. Aber er wird nicht aufgeben. Und ja, die Winzer stehen vor massiven Herausforderungen. Aber sie begegnen ihnen mit wissenschaftlicher Präzision, technologischer Innovation und einem unschlagbaren Willen.

Die Geschmacksrevolution, die wir heute in der Flasche finden, ist ein Versprechen: auf Weine, die uns überraschen, auf PiWis, die unsere Umwelt schonen, und auf eine Branche, die es versteht, Tradition und Fortschritt zu vereinen. Es gibt Gewinner und Verlierer , aber insgesamt ist die Weinkultur lebendiger denn je.  

Also, meine Freunde, lasst uns die neuen Weine mit offenen Sinnen verkosten. Stellt sie nicht einfach in den Keller, sondern gebt ihnen eine Chance. Denn diese Weine sind nicht nur Getränke. Sie sind die Zukunft. Und die Zukunft, die schmeckt verdammt gut. 

Detlev, Euer Weinflüsterer

Inhaber vom gandeshop.de



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